Den Dingen ihr Geheimnis zurückgeben | Martin Hentschel


Schon über einige Jahre hinweg hatte Martin Schwenk an gegenstandslosen Skulpturen gearbeitet, eine Werkgruppe, die er leicht hätte fortschreiben können, wäre da nicht ein gewisses Gefühl der Unzufriedenheit gewesen. Das veranlasste ihn 1988 zu einem radikalen Schritt. An der Oberseite eines hellen, geschlossenen Quaders, der sich äußerlich nicht von seinen bisherigen Arbeiten unterschied, brachte er eine tiefe Aussparung ein. In diesen Hohlraum setzte er Wasserpflanzen und füllte ihn soweit mit Wasser, bis der Wasserspiegel mit der Haut der Plastik wieder eine Ebene bildete. Da der Quader in Augenhöhe angebracht war, konnte man das Innere zunächst nicht sehen. Allein die Dünnwandigkeit der Aussparung verursachte eine dunkle Färbung im Material, ein Rechteck, das sich wie selbstverständlich in die Planimetrie der Schauseite einfügte. Wer unterdessen näher trat, dem tat sich unter dem Wasserspiegel eine kleine aquarische Welt auf, etwas, das gänzlich unerwartet schien. Die Skulptur war durch und durch ambivalent: minimalistische Form und Aquarium in eins, und insofern markierte sie einen Bruch in Schwenks bisheriger bildhauerischer Konzeption.

Es sollte aber ein Bruch sein, der ein Schlaglicht auf seine gegenwärtige Arbeit vorauswarf. Zwar erwies sich die Entscheidung, lebendige Organismen als skulpturale Versatzstücke zu verwenden, auf Dauer gesehen als wenig tragfähig. Zu unbeständig war das Biotop geraten: so ließ sich die Illusion einer lebenden Skulptur nur durch den permanenten Austausch von Wasser aufrechterhalten. Das Geheimnis aber, das der Kasten dem Betrachter so unvermittelt eröffnete, konnte sich auch anderen skulpturalen Kontexten einschreiben. 1990 entstand zum ersten Mal ein Bildkörper, der später in weiteren Versionen mit dem Titel Reliquiar versehen wurde. Ein Gebilde, das durchaus jenem Kasten verwandt war, das indessen auf die dahinterliegende Wand als Träger und optische Folie bezogen war. Schwenk brach die Frontseite des Körpers auf, indem er eine ornamentale Form kreierte, die sich, vertikal gesehen, spiegelsymmetrisch verhält. Die unregelmäßigen Kanten des Musters lassen noch das Gussverfahren erahnen, das der Formgenese zugrunde liegt. Sie verleihen der Arbeit nicht allein ihren fragilen Charakter, sondern deuten auch auf den Übergang, der gleichermaßen durch die Geschichte des Ornaments wie durch die skulpturale Arbeit Schwenks selbst begründet ist. Unmittelbar hinter das Maßwerk setzte der Künstler eine leicht gefärbte Mattglasscheibe ein, welche die Rahmenfunktion des Korpus hervorhob. Den Bezug zum Maßwerk barocker Reliquienschreine hat Schwenk mittels einer Fotografie aus einer Florentiner Kirche sinnfällig gemacht.1 Doch die Transformationen sind nicht zu übersehen. Nicht allein, dass die bewehrte, mit Voluten besetzte Kartuschenform des Schreins in ein sichtbar zerbrechliches Gebilde übersetzt wurde: im selben Maße, wie das Behältnis sich entleert darstellt, wächst dem Korpus selbst etwas von dem Geheimnis zu, das ursprünglich der Reliquie eignete. Die milchige Scheibe, die das Maßwerk als Relief betont, wie sie zugleich die Distanz zur Wand erhöht, erscheint jetzt als Projektionsfläche, worin sich die Einbildungskraft eines jeden Betrachters auf je andere Weise verfangen mag. Die Imagination zu Ausflügen zu bewegen, vermag auch eine weitere Arbeit aus demselben Jahr, Gullivers Reisen genannt. Aus einer spiegelnden Fläche, eingefasst von einem grünen Plateau, ragen zwei zerklüftete Inseln. Dem ersten Blick zeigen sie sich zweifellos als Miniaturlandschaften. Wer sich aber auf Augenhöhe des Plateaus begibt, dem tun sich unversehens Felsformationen von ungeahnten Dimensionen auf. Die irreguläre Färbung des Materials bestärkt diesen Eindruck. Und wieder anders kann man seltsame, sagenhafte Tiergebilde imaginieren, deren Stammbäume in keinem zoologischen Atlas zu verzeichnen wären. Nicht wenig trägt zum Perspektiv - und Proportionswechsel bei, dass Schwenk mit Formen operiert, die sich nur zum Teil bewusster Gestaltung verdanken. Sie entstanden vielmehr aus den zufällig generierten Faltungen und Verästelungen von Hohlformen, die für den Künstler nur bedingt ein-sehbar waren.2 Die Zufallsbildung aber gebührt von jeher eine größere Wahrscheinlichkeit, wenn es um Mimesis landschaftlicher Terrains geht. Max Ernst wusste davon, seine Frottagen und Monotypien bewegen das imaginierende Auge in ähnlicher Weise wie die Plastiken Martin Schwenks. Allerdings arbeitet Schwenk mit einem künstlerischen Mittel, welches die Phantasie gewissermaßen gefangenhält: Mag auch der Glassturz bei Gullivers Reisen vorderhand im Sinne einer Schutzfunktion interpretierbar sein, so greift doch andererseits der Eindruck einer musealen Präsentation unmittelbar in die Arbeit ein. In der Tat werden wir an Modelle geologischer Formationen erinnert, wie wir sie in den Naturkundemuseen finden. Und wenn wir uns den Schaukasten dorthin versetzt denken, so würde er sich seiner Umgebung mühelos anpassen. Solchermaßen nimmt die Skulptur Züge eines Simulakrums an, es erzählt mit scheinbar großer Präzision von einer Landschaft im Nirgendwo. Inwieweit sich Schwenk für eben diese Form kategorial besetzter Naturanschauung interessiert, die von den Naturwissenschaften gepflegt wird, lässt sich auch an anderen Arbeiten seit 1990 ablesen. So baut er beispielsweise eine vier Meter lange Wandvitrine, die drei horizontal ausgerichtete, von Halterungen gefasste Glastuben enthält. Sie lassen ohne Umschweife an Reagenzgläser denken. Darin kann man längliche, irreguläre Gebilde bewundern, die nicht wenig an Korallen oder Versteinerungen eigentümlicher Astformen erinnern. Desgleichen verwendet er in einer anderen Arbeit vertikal gerichtete Glastuben, die biomorphe Strukturen zeigen. Wieder andere Gipsformationen werden in einer Art Terrarium zu einem großen Wald (1990) zusammengefasst. Immer ist es die schon präparierte, sklerotisierte Natur, die hier thematisiert wird. Und damit spricht Schwenk von einer Verfassung der Welt, in der das Museum ein zentrales Refugium aussterbender Arten geworden ist, Erinnerungsmal und Denkzettel zugleich. Dennoch haben seine Präparate nichts Nostalgisches an sich. Das Museale erweist sich vielmehr als Ausgangspunkt einer Phantasie, die gelernt hat, mit der Erfahrung umzugehen, dass das lebendige Naturschöne durchaus trügerisch sein kann. Trügerisch insofern, als in seinem Glanze womöglich schon die Fäulnis sich eingenistet hat und seine Pracht womöglich schon die Ahnung des kommenden Todes birgt. So gesehen verhält sich Schwenks skulpturale Phantasie, wo sie denn auf die Dinge der Natur ausgreift, völlig nüchtern. Sie zehrt aber von einem Reservoir, das älter ist als das Museum und dieses maßgeblich angestoßen hat. Ich meine die Kunst - und Wunderkammer3, den Ort, dessen Inventar nach den Begriffen "Naturalia", "Artificalia", und "Scientifica" geschieden wurde, wo aber die Kunst ihren Platz als "Zierde der Naturgeschichte" einnahm, weil gerade in ihr das Wesen der Natur um so deutlicher in Erscheinung trat. Francis Bacon etwa spricht davon, dass die Natur der Dinge "sich eher über die Eingriffe durch die Kunst als in der ihr eigenen Freiheit"4 zeige. Die Faszination der Wunderkammer lebte davon, dass sie zwar eine Ordnung der Dinge kreierte, dass aber die Dinge selbst noch nicht streng von jenen Begriffen durchdrungen waren, mit denen wir in der modernen Naturwissenschaft umgehen. So konnte die Welt als Ganze das Geheimnis der Schöpfung bewahren. Schwenks Skulpturen spielen mit jener Faszination indem sie sich als Präparate gerieren und in dieser Form präsentiert werden. Und auf der anderen Seite sind sie Wunderdinge, in denen die präparierte Natur wie durch einen Zauber verlebendigt wirkt: durch Kunst. Das der Künstler den Zufall in dieses Wechselspiel einbezieht, davon war schon oben die Rede, als es um Mimesis der Natur ging. Das bedeutet aber auch, sie gebiert Formen, die kein noch so handfertiger Bildhauer ersinnen kann. Wenn wir etwa das Auge über den gespenstisch großen Knochen (1993) schweifen lassen, so entdecken wir Knorpel, Krater und Schründe, die jedem Begriff bildhauerischer Gestaltung widersprechen und gerade deshalb so selbstverständlich wirken: selbstverständlich, wie die gewachsene Natur. Und wiederum wird man dennoch vergeblich suchen, würde man die Lehrbücher nach einem Fallbeispiel dieser Art Naturform durchforsten.

Denken wir daran, dass auch in den Wunderkammern gewisse monströse "Naturverirrungen" aufbewahrt wurden, in denen die Zufallsnatur ihr regelloses Spiel treib. Der Übergang von diesen Mirakeln zu den Werken der Kunst wurde durchaus als osmotisch verstanden; von dort aus gesehen konnte gar ein Anstoß für die Kunst erfolgen: "Wenn einmal die Natur in ihren Verwandlungen begriffen ist, so wird es leicht, sie künstlich dahin zu bringen, wohin sie sich einmal zufällig verirrte; - ja man wird dieses weiter treiben können, indem eine Abweichung den Weg zu vielen bahnt."5 Bacons Gedanken geben uns einen Fingerzeig für die Anschauung der Skulpturen Martin Schwenks, bewegen sich diese doch allemal auf dem metaphorischen Feld zwischen wundersamer Natur und "natürlicher" Kunst. Diese Art Metamorphose setzt sich auch da fort, wo der Künstler - wie bei den jüngsten Skulpturen - die Ästhetik des Schaukastens verlässt. Für seine Solinger Ausstellung 1995 fertigte er eine Ansammlung von großen und kleinen Pilzen, die dem Galerieboden quasi wie von selbst erwuchsen und doch in der Lage waren, das Ambiente grundlegend neu zu definieren. Dem Ensemble fügte Schwenk einige Sitzbänke aus Gips und Holz hinzu, die ebenso zum Gebrauch einluden wie sie andererseits davon abhielten, indem sie sich nämlich auch als autonome Skulpturen gebärdeten. Hans Knopper hat mit Recht festgestellt, dass der gesamte Raum sich solchermaßen zur Vitrine verwandelte.6 Glassturz und Sockel, die ehedem eng mit der Skulptur verschwistert waren, transformieren dergestalt zu Sitzbänken, die nun auf andere Weise in die Betrachtung der Installation einstimmten. Zugleich bewegte sich das Pilzensemble einen Schritt weiter in die Richtung lebendiger Natur. In dem Maße, in dem es sich zur wieder erkennbaren Form ausgestaltete, teilte sich die fremdartige Faszination, die zuvor in den Formverästelungen jeder einzelnen Skulptur aufgehoben war, nun dem Raum als ganzen mit. Es war, als hätte jene geheimnisvolle PflanzenMusik, die der Künstler noch 1993 in einen präzisen stereometrischen Körper einbettete, ihr Gehäuse verlassen, um die Welt draußen mit ihrem unerhörten Klang zu überziehen.

1 In: Kat. Ausst. Wilhelm Mundt und Martin Schwenk. Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1993, S. 20

2 Es handelt sich wie bei den meisten Arbeiten, um Positivgüsse, d.h. die tönerne Gussform wird nach dem Abbinden der Gipsmasse unwiederbringlich zustört. Von daher sind die so entstandenen Skulpturen Unikate.

3 Vgl. Horst Bredekamp, Antikensucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993

4 Francis Bacon, Novum Organum, in: The works, Bd.2, London 1857, S. 141, zit. n. Bredekamp, a. A. O., S.65

5 Hans Knopper, Nachbetrachtungen zu den Skulpturen Martin Schwenks oder wie Kunst und Natur aneinandergrenzen, in: Kat. Ausst. Martin Schwenk. Skulpturen. Städtische Galerie, Deutsches Klingenmuseum Solingen 1995, o.P.

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